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Eine Reise ins Herz Chryseias

Es gibt viele Wege, ins Herz Chryseias zu gelangen - und ebenso viele Gründe, dorthin zu wollen. Hat man beispielsweise in Kroisos die schwankenden Planken eines Schiffes gegen gepflasterte Straßen getauscht, wird man sich wahrscheinlich der Karawane eines mächtigen Handelshauses anschließen und im Schutze der begleitenden Söldner auf der alten valianischen Heerstraße ins Landesinnere reisen.

Vielleicht hat man sich zuvor in einer Taverne bei einem, der es wissen muss, über Trikkalien kundig gemacht: Das Herz Chryseias, wie es gerne wegen seiner fruchtbaren Böden genannt wird. Eine ländliche Region, die allgemein als Heimat der Hexen und Totenbeschwörer verschrien ist und deren rückständige Bewohner nicht nur dem alten Weingott Jakchos mit rauschhaften Riten huldigen, sondern angeblich noch viele andere - auch finstere - Götter der Vorzeit anbeteten. Noch schlimmer seien die Bewohner des Katalideon, des nördlichen Hochlands, mit denen die Trikkalier mal Handel treiben, mal Krieg führen: Allen voran die Vallaken - räuberische Barbaren, denen Nea Dea und Wredelin fremd seien -, dann viele Bestien und Kreaturen, die der gemeine Chryseier in einer Stadt wie Kroisos allenfalls aus Sagen und Legenden kennt.

Mit diesem Wissen ausgestattet, hat man an einem Spätsommertag das große Handelszentrum am Meer der Fünf Winde verlassen. Die unwegsame, von dichtem Buschwerk überwucherte Küstenlandschaft hinter sich lassend, führt die Straße zwischen sanften, von Ölbäumen und Korkeichen bestandenen Hügeln nach Nordwesten. Die salzige Meeresbrise ist inzwischen einer von Rosmarin- und Thymianduft geschwängerten und vom Zirpen der Zikaden erfüllten Landluft gewichen. In der Mittagshitze wölbt sich über dem Reisenden ein wolkenloser Himmel, an dem Adler und Bussard ihre Kreise ziehen.

Zur Reisegruppe gehören auch mehrere Pilger, die Trikkalien als Ziel haben. Die tiefgläubigen Anhänger Nea Deas sind auf der Wallfahrt zu den abgelegenen Felsenklöstern von Nepheloikos. Auf schwindelerregend hohen Felsnadeln haben im Laufe der letzten Jahrhunderte die Einsamkeit suchende Mönche mehrere Klöster erbaut, wo sie die Reliquien berühmter Chrysen aufbewahren. Von der Berührung der Heiligenknochen erhoffen sich die Pilgerfahrer eine Linderung ihrer Gebrechen.

Schließlich weitet sich der Horizont und gibt den Blick frei auf das blaugrüne Band des träge dahin strömenden Flusses Paneios und die sich dahinter ausdehnende trikkalische Ebene mit ihren gelb wogenden Getreidefeldern, leuchtenden Obsthainen und reichen Weinbergen. Zahlreiche Dörfchen, Landgüter und Klöster sind in die Landschaft gestreut und auf den näher liegenden Feldern kann man schwitzende Landsklaven und Pachtbauern bei ihrem Tagewerk beobachten.

Malerischer ist da der Anblick der von Steineichen und Pinien bewachsenen kleinen Anhöhen, die sich vielerorts aus der Ebene erheben. Dabei handelt es sich um uralte, meist völlig unberührte Wäldchen, die aus verschiedenen Gründen von den Rodungen der Menschen verschont wurden. Manche von ihnen gelten bei den Bauern als heilige Haine der Alten Götter, deren Betreten schlimmes Unheil nach sich ziehen soll. Inmitten der kultivierten Landschaft verbergen sich hier aber auch, wie man sagt, viele scheue und seltsame Kreaturen, die nur selten ein menschliches Auge erblickt.

Ein Stück flussabwärts mündet die lebhafte Euphrosyne in den schwerfälligen Paneios, deren sich schlängelndes Silberband wir weit in die Ebene zurückverfolgen können. Fast bis zum Horizont, wo man in der Ferne bereits die graublauen Ausläufer des Katalideon erahnen kann. Am Mittellauf der Euphrosyne, nur eine Tagesreise von hier, liegt Nikostria, die bedeutendste Stadt Trikkaliens und unser Reiseziel.

Die Straße führt hinunter zur einzigen Brücke über den Paneios, die seit den Tagen des Seemeisterimperiums den Fluss mit kühn geschwungenen Bögen überspannt, und um deren Besitz in zahllosen Kriegen gefochten wurde. Heute gehört die Brücke der kleinen Stadt Lamissa, deren Mauern sich am jenseitigen Ufer erheben. Als wir den Brückenzoll entrichten, sehen wir zur Linken die Anlegestelle der Flussschiffer, die ab hier den schiffbaren Teil des Paneios bis hinunter nach Deapontos befahren, wo er sich in die Bucht der Delfine ergießt. Zuvor müssen sie jedoch mit ihren Lastkähnen durch das schmale Agriope-Tal, wo nicht nur tückische Strudel die Fahrt gefährden, sondern auch Netze von Riesenspinnen, die in den dicht bewaldeten Talhängen hausen sollen.

Nahe der Schiffslandestelle erkennen wir ein paar von Efeu umrankte Säulen, die Überreste eines Tempels, welcher einst alten Göttern geweiht war. In Trikkalien stößt der Reisende häufiger als in anderen Teilen des Landes auf Ruinen aus valianischer oder gar noch älterer Zeit. Meist handelt es sich dabei um verfallene Heiligtümer der alten Götter, die heute von Unkraut überwuchert sind, wenn sie nicht als Steinbrüche genutzt werden. Manchmal aber verbergen die eingestürzten Mauern mehr als man erwartet.

Als wir die Brücke überquert haben, stehen wir bereits auf trikkalischem Boden. Wir sind nun im Herzen Chryseias, aber unsere Reise ist noch nicht zu Ende und das Abenteuer beginnt gerade erst...

 

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